Interview mit der Landesvertreterin der Interessenvertretung pflegender Angehöriger Nicole Knudsen

Frau Nicole Knudsen, die Landesvertreterin der Interessensvertretung pflegender Angehöriger, hat selber fast sechs Jahre ihren an Parkinson und Alzheimer erkrankten Mann zu Hause gepflegt. Uns erzählt sie heute völlig offen und direkt von Ihren Erfahrungen und davon, wie pflegende Angehörige in der Gesellschaft wahrgenommen werden sowie von ihrem Engagement, diese zu verbessern.

Frau Knudsen, wie lange sind Sie schon als Landesvertreterin der Interessensvertretung pflegender Angehöriger tätig?

Eigentlich erst seit Kurzem. Anfang Juli 2020 wurde ich vom Vorstand der Interessensvertretung pflegender Angehöriger zur Landesvertreterin in Schleswig-Holstein berufen. Nun, nach der politischen Sommerpause, kann ich meine Arbeit als Landesvertreterin aufnehmen und die Aufmerksamkeit der Politik und der Gesellschaft auf die schwierige Situation pflegender Angehöriger insbesondere in der Corona-Pandemie lenken.

Was gehört zu Ihren Aufgaben als Landesvertreterin?

In erster Linie möchte ich die gesellschaftliche Relevanz der Angehörigen, die ja den größten Anteil an Pflege in Deutschland leisten, gegenüber der Landespolitik deutlich machen. Die ersten Pandemie-Wochen zeigten die Systemrelevanz von Pflegefachpersonen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, aber weder in der Politik noch in der breiten Öffentlichkeit wurde die Pflege von Angehörigen angemessen anerkannt und gewürdigt, obwohl der Großteil der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt wird. Dabei sind die häuslich Pflegenden der größte Pflegedienst Deutschlands.

So zeigte die letzte offizielle Statistik aus dem Jahr 2017, dass fast 3,5 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig sind und rund 2/3 davon von Millionen Angehörigen zu Hause gepflegt werden.

Wahrscheinlich liegt die tatsächliche Anzahl noch höher, da manche Pflegebedürftige ihren Pflegebedarf nicht öffentlich machen, sie von keinem System erfasst werden, keinen Pflegegrad beantragen und die Angehörigen Betreuung und Pflege „nebenher“ mitlaufen lassen. Doch das sind erst einmal nur Zahlen. Hinter jeder dieser Zahl verbergen sich viele Schicksale, auf die ich aufmerksam machen möchte.

Glauben Sie, dass pflegende Angehörige in Deutschland genug unterstützt werden? Wo sehen Sie einen Verbesserungsbedarf?

Der Großteil der pflegenden Angehörigen, davon wiederum der überwiegende Teil Frauen, ist gezwungen, die eigene Berufstätigkeit zu reduzieren oder gar ganz aufzugeben, weil es oftmals nicht möglich ist, Pflege und Beruf miteinander zu vereinbaren. Häusliche Pflege zu leisten kostet enorm Kraft, Zeit und emotionale Ressourcen.

Die Folge davon sind neben den physischen und psychischen Folgen dann sehr häufig prekäre Situationen und finanzielle Engpässe aktuell und im Alter. Dies führt gleich zum nächsten Problem, nämlich zur Armut durch Pflege: Wer seine Angehörigen zu Hause auf eigene Kosten pflegt, riskiert in Altersarmut zu geraten. Doch das ist nur eines von mehreren Themenfeldern, denen sich der Verband widmet.

Ein weiteres Problem ist, dass die Entlastungsleistungen, die einem zustehen, ein Dschungel sind. Zum einen ist es schwer herauszufinden, welche Leistungen in Frage kommen und wie man sie in Anspruch nehmen kann. Zum anderen ist vielen nicht klar, was man wo beantragt und wie man welche Anträge ausfüllen muss. Durch die 24/7 Pflege haben Angehörige auch keine Zeit, sich damit auseinander zu setzen. Sie haben ja auch keinen Urlaub, Wochenende oder Feierabend und die meisten haben auch keine Großfamilie, die sie unterstützt. Eine Forderung des Verbands ist es also auch, diesen Dschungel zu lichten und niederschwellig nutzbar zu gestalten. 

Sie waren persönlich vom Thema betroffen und haben fast sechs Jahre lang Ihren Mann zu Hause gepflegt. Mit welchen Problemen und Herausforderungen haben Sie als Angehörige zu kämpfen gehabt?

Für mich war es damals ganz wichtig, das soziale Umfeld aufrechtzuerhalten.

Wenn der Partner dementiell erkrankt ist bedeutet das eine komplette Umstellung und Veränderung des bisherigen Lebens. Meinen Job musste ich aufgeben, konnte aber stundenweise im home office weiter arbeiten. Etwas anderes hätte auch nicht funktioniert, da man 24/7 mit Pflege und Betreuung beschäftigt ist. Und trotzdem und gerade dann ist es wichtig, Freundschaften und nachbarschaftliche Kontakte aufrechtzuerhalten. Auch wenn jeder Tag ein einziges Improvisationstheater ist, darf man sich nicht von seinem sozialen Umfeld isolieren.

Es ist sehr wichtig in der Zeit der Pflege ein stabiles Umfeld zu haben und Freunde, die die Situation und die Krankheit verstehen und einen unterstützen. Das ist nicht immer einfach. Wir hatten Glück, dass wir einen offenen Bekanntenkreis haben. Auch sind wir noch bis vor der Pandemie in Konzerte gegangen und haben dadurch Inklusion gelebt und diese in den Köpfen der Menschen auch gefordert. Eine Inklusion, die weiter geht als eine Rollstuhlrampe im Eingangsbereich. Ich finde, dass auch ein im Rollstuhl sitzender, dementiell erkrankter Mensch mit herausforderndem Verhalten ein Recht darauf hat, in Konzerte gehen zu können. Mein Mann hat die Musik immer sehr geliebt. Er muss auch seine Haare schneiden lassen oder mal zum Zahnarzt gehen.

Um echte gesellschaftliche Teilhabe leben zu können, benötigen wir ein entsprechendes Umfeld. Behörden, Handel, Dienstleister, Handwerker etc. müssen noch viel mehr geschult werden. Dabei baut man Berührungsängste am besten ab, wenn man selber offen mit den sich ergebenen Situationen umgeht. Und eine Spur heiterer Gelassenheit hilft auch. Dazu muss man selber sicherer werden. Die Krankheiten kennen und erkennen. Das Verständnis kommt von Verstehen. Mir haben damals verschiedene Selbsthilfegruppen geholfen. Auch habe ich mehrere Schulungen zum Thema Kommunikation bei Demenz, diverse Pflegekurse und weitere Fortbildungen gemacht. Mit der Zeit bin ich zur Expertin meines Mannes geworden. Durch diese Erkenntnisse konnte ich verschiedene Situationen aus dem Alltag mit meinem demenzerkranken Mann besser verstehen und auch Nachbarn und Freunde besser in unseren Alltag integrieren.

Ich lernte zum Beispiel, dass es bei der Kommunikation mit einem dementiell erkrankten Menschen nicht unbedingt auf die Inhalte dessen, was er sagt, ankommt. Wichtiger ist es, seine Motive und Bedürfnisse zu erkennen und zu spiegeln. Das Wichtigste, was ein Pflegebedürftiger braucht, sind Sicherheit, Geborgenheit, Liebe, Ruhe und Gelassenheit – und eine Spur Humor – das gilt eigentlich für alle Menschen.

Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und u.a. auf das gesamte Gesundheitswesen. Welche Folgen hat sie Ihrer Meinung nach für die Pflege?

Am schlimmsten war wohl die häusliche Isolation. Uns fehlten die Konzert- und Theaterbesuche. Da ich meinen Mann plötzlich nirgendwo mehr mit hinnehmen konnte, weil er Gesichtsmasken bei sich und anderen nicht tolerierte, haben Freunde für uns eingekauft oder auf meinen Mann aufgepasst, wenn ich selber einen Termin hatte. Es ist bemerkenswert, wie stark der gesellschaftliche Zusammenhalt während der Corona-Krise war.

Politisch sind pflegende Angehörige am Anfang der Corona-Krise komplett aus dem Blickfeld verschwunden. Professionelle Pflegekräfte in den Kliniken haben ebenfalls großartige Arbeit geleistet und erhielten dafür zu Recht einen Pflegebonus. Pflegenden Angehörigen hätte ich da auch gern mehr Aufmerksamkeit gewünscht. 

Wissen Sie, was mich sehr zu Beginn der Pandemie geärgert hat? Alle sprachen von Social Distancing. Das ist fatal und von seiner Bedeutung her falsch. Man muss sich räumlich distanzieren, nicht sozial. Sonst besteht die Gefahr sozialer Isolation, aus der man später nicht wieder rauskommt – und sei es nur in den Köpfen.

Vielen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch!

Zur Person

Nicole Knudsen, Jahrgang 1963, war Geschäftsführerin des Landesverbandes Windenergie in Schleswig-Holstein, bis sie 2016 in Pflegezeit ging um ihren an Parkinson und Alzheimer erkrankten Mann bis zu seinem Tod im August 2020 zu Hause zu pflegen. Sie arbeitet ehrenamtlich als Landesvertreterin Schleswig-Holstein für die Interessensvertretung pflegender Angehöriger www.wir-pflegen.net.

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